„Vertrauen ist die wichtigste Grundlage“

03. September 2021 News Bereich Nord Bereich Ost Bereich Süd Bereich West

Hans Alfred Klein arbeitet auch nach seiner aktiven Dienstzeit als Lotse für einsatzgeschädigte Soldaten

Von Helmut Michelis

Flirrende Hitze, Staub – im gemütlichen rheinischen Wohnzimmer, an der Wand hängen bunte Karnevalsorden, ist plötzlich diese verdammte afrikanische Straße wieder da. „Vor uns ein illegaler Checkpoint. Keine Funkverbindung zur Leitung mehr. Wir versuchen die Sperre zu umgehen, geraten unbeabsichtigt mitten in ein Lager mit finsteren Gestalten, die hektisch werden, als sie uns sehen. Kriminelle? Aufständische? In diesem Moment egal. Die Männer greifen zu ihren Kalaschnikows, einige zielen mit Panzerfäusten auf uns.“ Der junge Soldat auf dem dunkelroten Ledersofa, in Schweiß gebadet, bricht die Schilderung der gefährlich eskalierenden Patrouillenfahrt in Mali abrupt ab. 

Stabsfeldwebel a.D. d.R. Hans Alfred Klein drängt ihn nicht weiter, holt einen Becher Kaffee aus der Küche. Der 56-jährige frühere Berufssoldat hat Zuhören gelernt. Er ist einer von insgesamt 569 Lotsinnen und Lotsen für einsatzgeschädigte Soldatinnen und Soldaten; ihm gegenüber sitzt einer von insgesamt tausenden Angehörigen der Bundeswehr, die eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) erlitten haben. Insgesamt sieben „Klienten“, wie Klein sie nennt, betreut der Lotse im Einzugsgebiet des Taktischen Luftwaffengeschwaders 31 „B“ in Nörvenich bis nach Köln und in die Eifel. Deren Erlebnisse reichen von heimtückischen Anschlägen über den Kontakt zu fremdartigen Einheimischen in bitterer Armut bis hin zu einer nicht mehr zu ertragenden Dauerbelastung – eine brisante Mischung aus unsichtbarer Gefahr, extremer körperlicher Belastung und zunehmender Erschöpfung bei extremem Klima.

Ein Lotse, so versteht sich Klein, ist ein Kümmerer, ein Bindeglied zwischen dem PTBS-Erkrankten, dem örtlichen Psychosozialen Netzwerk (PSN) der Bundeswehr und den Einrichtungen, die ihm helfen können. Zu diesem Netzwerk der Hilfe gehört auch das Bundeswehr-Sozialwerk. Mehr als 90 Einsatz-Nachbereitungsseminare hat der Erftstädter bislang moderiert. „Das ist das erste Mal, bei dem sich ein betroffener Soldat oder eine Soldatin unter Gleichgesinnten öffnen und auf ihre Lage aufmerksam machen können.“ Fällt dem StFw jemand auf, der besonders still und in sich gekehrt ist, bittet er ihn oder sie anschließend zu einem Spaziergang unter vier Augen, um Näheres zu erfahren. Auch über ein „abendliches Bierchen an der Bar“ erfährt der Moderator und Lotse manchmal, wo er helfen kann. „Wichtig ist, dass sich die Gruppen, die gemeinsam im Einsatz waren, nicht aus einem falschen Ehrenkodex heraus vorher zum Stillschweigen verpflichten. Interne Absprachen sind schädlich. Da werde ich sauer, wenn ich das bemerke.“

Denn auch der frühere Soldat des Objektschutzregiments der Luftwaffe, mit dem der StFw sich gerade wieder getroffen hat, war zunächst in einer verschworenen „Kämpfer-Welt“ gefangen. Jeder Gang zum Arzt oder zum Truppenpsychologen, jede offen gezeigte Schwäche war entsprechend geächtet. So geriet der Soldat zunehmend unter Druck, wurde fahrig und aggressiv – am Ende funktionierte auch der Alltag nicht mehr, selbst Freunde und Familie wandten sich ab. Häufig führe PTBS auch zur Alkohol-, Drogen- oder Spielsucht. „Da müssen die Kompaniechefs und die Spieße wachsam sein“, mahnt Hans Alfred Klein. Er weiß, wovon er spricht: 1985 ist er in die Luftwaffe eingetreten, vier Mal war er in Afghanistan – umgerechnet mehr als ein Jahr im Auslandseinsatz.

Beim letzten Aufenthalt im nordafghanischen Masar-i Sharif empfand er den Umgang mit den Soldaten als zu oberflächlich, weil Gespräche rein auf das Dienstliche konzentriert gewesen seien. „Die Psyche wurde ausgeklammert. Menschen sind aber keine Maschinen.“ Darum gründete er eine Betreuungseinrichtung, in der auch über private Sorgen gesprochen werden durfte. Das war, eher unbeabsichtigt, der erste Schritt in die neue Aufgabe: „Doch irgendwie war das schon immer mein Ding.“ Beim Taktischen Luftwaffengeschwader 31 in Nörvenich übernahm der Flugsicherungsradartechniker nebenamtlich die Tätigkeiten als Lotse, Peer und Moderator für Einsatz-Nachbereitungsseminare. „Ein Peer, das ist der Ersthelfer für die Seele, wenn es um Stressbewältigung nach einer schweren Krisenlage geht“, beschreibt der StFw diese spezielle Funktion.

Nach dem Ausscheiden aus dem Dienst 2019 betraute der Kommodore den erfahrenen Unteroffizier im Rahmen von Reservistendienstleistungen weiterhin mit diesen wichtigen Aufgaben. „Ich bin im positiven Sinn die Spinne im Netz“, beschreibt Klein seine wichtige Arbeit. So stellte er im Fall des jungen Soldaten als Erster fest, dass er offenbar an PTBS erkrankt war, und sorgte über den Sozialdienst der Bundeswehr dafür, dass ein Wehrdienstbeschädigungsverfahren eingeleitet wurde – die Grundvoraussetzung dafür, dass der Mannschaftssoldat im Rahmen des Einsatzweiterverwendungsgesetzes über sein vorgesehenes Dienstzeitende hinaus jetzt weiter bei der Bundeswehr bleiben darf. Dieses Gesetz gewährt Soldatinnen und Soldaten, die während eines Auslandseinsatzes schwer verwundet worden sind, das Anrecht auf Weiterbeschäftigung. Auch Kameradinnen und Kameraden oder Familienangehörige können den Lotsen auf ein mögliches Problem hinweisen.

Im Fall des Luftwaffensoldaten hat es Jahre gedauert, bis konkrete Hilfe für ihn anlief – die „Mühlen der Bürokratie“ wurden durch die Pandemie mutmaßlich noch mehr verlangsamt, Versetzungsgesuche seien zunächst nicht bearbeitet worden oder verlorengegangen. Erst ein neuer Vorgesetzter machte auf seinen Fall aufmerksam. „Ich hinterfrage nicht. Ich bewerte nicht“, betont der Lotse mit Blick auf die Schilderungen des Soldaten und die bisherigen Abläufe. „Ich nehme mir Zeit, die Bedürfnisse meines Klienten herauszufinden und entsprechende Maßnahmen über das Psychosoziale Netzwerk einzuleiten.“ Vertrauen sei dabei die wichtigste Grundlage. Gemeinsam mit dem PSN organisiert der StFw auch gemeinsame Treffen seiner Klienten, zum Beispiel beim Grillen in einem Depot. „So können sie sich austauschen und eventuell untereinander helfen. Sie alle befinden sich in unterschiedlichen Etappen einer Zeitreise. Mein aktueller Klient beispielweise steht noch ganz am Anfang und kann von den Erfahrungen Älterer profitieren.“

Ein rot-weißer Leuchtturm ist auf der Visitenkarte und einem Wappen auf der Uniform von Hans Alfred Klein abgebildet, Symbol dafür, dass er Wegweiser sein will in stürmischer See. Der junge Soldat ist jedenfalls voll des Lobes über diese Unterstützung auch beim umfangreichen Schriftverkehr mit Ärzten oder Behörden: „Ohne Herrn Klein wäre ich nicht so weit, wie ich heute bin, und ihm sehr dankbar, dass er immer ansprechbar ist.“ Der StFw, Vater eines Sohnes (29) und einer Tochter (25), bringt dabei gern seine Lebenserfahrung ein und sieht sich gegenüber dem Erkrankten auch in einer väterlichen Rolle. „Empathie muss sein, sonst brauche ich gar nicht erst anzufangen.“