Seelsorge in der Bundeswehr

16. Mai 2022 Bereich Nord Bereich Ost Bereich Süd Bereich West

Drei Militärgeistliche gewähren einen Einblick

Von Monika Himpler

Soldatinnen und Soldaten haben „einen Anspruch auf Seelsorge und ungestörte Religionsausübung“. So steht es im Soldatengesetz, das zusammen mit Art. 4 des Grundgesetzes den rechtlichen Rahmen für die Militärseelsorge schafft. Was bedeutet dieser rechtliche Anspruch konkret? Die Zentrale Dienstvorschrift A-2500/2 gibt darauf eine Antwort, denn dort wird präzisierend ausgeführt, dass „die Militärseelsorge der von den Kirchen geleistete, vom Staat gewünschte und unterstützte Beitrag zur Sicherung der freien religiösen Betätigung in den Streitkräften“ ist. Unter Wahrung der freiwilligen individuellen Entscheidung gehe es in der Militärseelsorge als eigenständigem Organisationsbereich der Bundeswehr um die Weckung, Festigung und Vertiefung des religiösen Lebens.

Das impliziert, dass die seelsorgerliche Arbeit unabhängig ist von staatlicher Weisung. Militärsorgerinnen und -seelsorger bewegen sich mit ihrem zivilen Status jenseits der militärischen Hierarchie und sind dem Seelsorgegeheimnis verpflichtet. Dies mögen Gründe dafür sein, dass nicht wenige Kirchenferne, Andersgläubige und Konfessionslose die seelsorgerlichen Angebote, insbesondere Lebensbegleitung durch das vertrauliche Gespräch wahrnehmen, auch wenn sie zuvor noch nie mit Kirche in Berührung gekommen sind. Nicht selten wundern sich Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, wenn ihnen dort zum ersten Mal Militärgeistliche begegnen und für sie oder ihre Angehörigen begleitend zur Verfügung stehen.

Mehr als 60 Jahre nach ihrer Gründung hat sich die Arbeit der Militärseelsorge innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft und säkularer gewordenen Bundeswehr verändert. Ihr schrittweiser Wandel von einer Verteidigungsarmee zu einer flexiblen Einsatzarmee stellt auch die Militärseelsorge vor neue Herausforderungen.

Unterstützung und Lebensbegleitung

Gerade im Zusammenhang mit Auslandseinsätzen ist der verpflichtend erteilte Lebenskundliche Unterricht (LKU) ein wichtiger Aufgabenbereich der Militärseelsorge, der sich mit komplexen Lebensfragen beschäftigt. Das wichtige Feld der Kompetenz- und Resilienzbildung durch Friedens-, Militär- und Alltagsethik darf auch in Zukunft nicht unterschätzt werden. Mit dem Wandel der Bundeswehr sind auch die Anforderungen an Soldatinnen und Soldaten vielschichtiger geworden. Dieser berufsethische Unterricht bietet Orientierung und Raum zur Reflexion über Fragestellungen, die sich häufig durch den Dienst an der Waffe aufdrängen und im Spannungsfeld von soldatischem Auftrag im Auslandeinsatz, den Angehörigen zuhause sowie der Konfrontation mit extremen Erfahrungen wie Verwundung, Tod und Verlust verortet werden können.

Heinrich Peter Treier: „In der Lage leben“

Der katholische Militärdekan Heinrich Peter Treier fühlte sich schon als Jugendlicher zum Priester berufen. Gleichzeitig zog es ihn, den Sechzehnjährigen, immer wieder in die Industrie, wo er einen Teil seiner Ferien regelmäßig verbrachte.  Während seines umfassenden Hochschulstudiums der Katholischen Theologie, Philosophie und Geschichte mit den Schwerpunkten Katholische Soziallehre sowie Wirtschafts-, Sozial- und Verfassungsgeschichte und auch als angehender Priester verspürte er eine Affinität zur Arbeitswelt und den Wunsch nach einer „beruflich orientierten Seelsorge“. Ein Anruf während seiner Tätigkeit als Pfarrer im Rheinland mit Erfahrungen im Schuldienst und Corporate Healthcare Management änderte dann alles und das eine fügte sich zum anderen: Das Angebot, als Militärseelsorger tätig zu sein, erlaubte eine besondere berufliche Nähe zu den Menschen und „Glaubensverkündung am Arbeitsplatz“, wie der gebürtige Wuppertaler es anschaulich formuliert.

Als Militärgeistlicher hat er die Zerrissenheit von Soldatinnen und Soldaten während seiner Einsatzbegleitungen in Afghanistan und Mali hautnah miterlebt. Gleichzeitig hat er dort eine Kameradschaft und große Verbundenheit innerhalb der Truppe wahrgenommen, die über die Erfahrungen im heimatlichen Alltag weit hinausgingen.

Das geografische Tätigkeitsfeld der Militärseelsorge hat sich seit 1990 deutlich erweitert, denn seitdem unterstützt sie die Auslandseinsätze der Bundeswehr und bietet „gerade im Einsatz eine heimatliche Konstante, einen Fixpunkt für die religiöse Praxis, einen Glaubens(h)ort, “ so Treier.  Veranstaltungen zur Wahrung von katholischen Traditionen und liturgische Angebote wie Gottesdienste und sakramentale Funktionen wurden durch neue Tätigkeitsfelder erweitert. Hierzu zählen beispielsweise mehrtägige oder mehrwöchige Intensivmaßnahmen mit Familien, Einsatzeinführungs- und Einsatzrückkehrerseminare neben regelmäßigen Wallfahrten, Friedenstagen und Projekten in den Bereichen Betreuung und Fürsorge.

Inzwischen ist die Einsatzbegleitung, die „erwartet wird“, zu einer zentralen Aufgabe mit besonderen Anforderungen geworden: In der Auseinandersetzung mit dem Neuen bieten die seelsorgerlich Begleitenden stets ein offenes Ohr für die Nöte und Konflikte, die ein Auslandseinsatz mit sich bringt, wie Schuld- und Ohnmachtserfahrungen oder Entbehrungs- und Bedrohungssituationen.  Nach Überzeugung des Militärdekans ist es gut, dass Soldatinnen und Soldaten mit ihrem verantwortungsvollen Beruf nicht von der Kirche abgewiesen werden. Die Aufgabe bestehe darin, das Belastende aufzufangen und seelsorgerliche Antworten zu geben, damit die anvertrauten Menschen „in der Lage leben“ und ihre konkreten Herausforderungen noch besser bewältigen können. Dem entsprechend sieht Militärdekan Treier im einsatzbezogenen Auftrag der Militärseelsorge eine „motivationale Stabilisierung und Disziplinierung der Truppe“, für die er sich nicht nur als Seelsorger, sondern auch als Staatsbürger mehr gesellschaftliche Anerkennung wünscht. Heinrich Peter Treier ist aber nicht nur Seelsorger, sondern in seiner Funktion als Beamter auf Zeit und Leiter der Dienststelle „Katholisches Militärpfarramt“ mit Sitz auf der Bonner Hardthöhe für so profane Dinge wie Räumlichkeiten, Material und Ressourcen zuständig, die neben der umfangreichen Gremienarbeit nicht zu vernachlässigen sind.

Petra Reitz: „Sich hinterfragen lassen“

Die Leitende Militärdekanin Petra Reitz wurde 2017 in ihr Amt eingeführt und leitet als erste Frau ein evangelisches Militärdekanat.  Damit ist sie für die Militärseelsorge in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland zuständig. Nach dem Studium der Theologie in Bonn mit den Schwerpunkten Kirchengeschichte und Systematische Theologie war sie zunächst 17 Jahre lang als Gemeindepfarrerin tätig, bevor sie 2009 das Angebot annahm und zur Militärseelsorge wechselte. Nach Zwischenstationen in Hannover und als stellvertretend Leitende Militärdekanin des Dekanates Kiel ist sie seit 2017 in Köln-Wahn tätig. Bereits früh konnte sie ihr Berufungsgefühl mit der Wirklichkeit abgleichen. Dabei hatte sie den prominenten Benediktinerpater Anselm Grün beratend an ihrer Seite, der sie bis heute begleitet. Schon lange gehören Übungen der christlichen Meditation zum festen morgendlichen Ritual der in Witten geborenen Militärdekanin. Die Verankerung in der Mitte und das Loslassen sind ihr wichtig, denn „das Leben verläuft wesensgemäß und nicht wunschgemäß.“  Christlich gesprochen gehe es also darum, das Kreuz aufzunehmen und es zu tragen, auch wenn es oft die eigenen Wünsche durchkreuze.

Der „konservativen Lutheranerin“, wie sie sich selbst bezeichnet, liegt neben der Friedensethik die Liturgie und deren festliche Gestaltung besonders am Herzen. In der Militärseelsorge und jenseits einer angestammten Pfarrgemeinde erfordert das mehr denn je die Bereitschaft, „sich hinterfragen zu lassen und das Evangelium in einen anderen Kontext hineinzusprechen“, um Botschaften zu transportieren. Es bedeutet auch, Gottesdienstformen zu variieren und die Methoden der Mitteilung zu verändern oder mit Symbolen zu arbeiten. Bereits im Rahmen ihrer Amtseinführung hatte die evangelische Militärdekanin daran erinnert, dass die Zugehörigkeit zur Kirche heutzutage „kein familiärer Selbstläufer“ mehr ist, sondern eine bewusste Entscheidung voraussetzt. Die Kirche müsse den Mut haben und darauf vertrauen, dass sich Menschen freiwillig für sie entscheiden. Nach ihrer Überzeugung ist die Persönlichkeit des einzelnen Pfarrers oder der einzelnen Pfarrerin sehr entscheidend für die Resonanz.

Zu ihren Leitungsaufgaben gehören mehrmals jährlich sogenannte Pastoralbesuche, worunter Auslandseinsatzbesuche bei dort tätigen Militärgeistlichen zu verstehen sind. Hinzu kommt die Beteiligung an der friedensethischen Diskussion in der Kirche und die Teilnahme an Synoden der sechs evangelischen Landeskirchen, die zum Militärdekanat Köln gehören. Petra Reitz ist zudem beratendes Mitglied der Superintendentenkonferenz der Evangelischen Kirche im Rheinland. Als Leitende Militärdekanin gehört es auch zu ihrem Tätigkeitsbereich, den regelmäßigen Kontakt zu den Landeskirchen zu halten und die Akquise voranzutreiben. Geeignete Kandidatinnen und Kandidaten für die Militärseelsorge sind vor allem diejenigen mit Erfahrung in der Leitung eines Pfarramts und Gemeinde-Erfahrung. Das setzt „einen positiven Veränderungswunsch“ ohne den Druck, etwas Anderes tun zu müssen, genauso voraus wie Motivation für das Aufgabengebiet der Militärseelsorge, Lebenserfahrung, Stressresistenz und Resilienz. Denn im kirchlichen Kontext benötigen die Militärgeistlichen Standhaftigkeit in der friedensethischen Diskussion. Sie steht im Spannungsfeld von „Radikalpazifismus und der Notwendigkeit der Wehrhaftigkeit einer Demokratie mit dem damit verbundenen Rechtfertigungsdruck“.

Militärdekanin Petra Reitz betont in diesem Zusammenhang die Wichtigkeit der Unabhängigkeit sowohl der Militärseelsorge als auch des Lebenskundlichen Unterrichts, damit Menschen nicht dem Risiko ausgesetzt sind, „unter einer systemischen Glocke zu verharren.“

Zsolt Balla: „Menschen verbinden“

Am 21. Juni 2021 wurde Zsolt Balla in seiner Heimatgemeinde Leipzig feierlich in sein neues Amt als Militärbundesrabbiner eingeführt. Damit übernimmt er die religiöse Leitung über die Jüdische Militärseelsorge, die es nach rund hundert Jahren wieder in einer deutschen Armee gibt. Die bei der Veranstaltung anwesende damalige Bundesministerin der Verteidigung Annegret Kramp-Karrenbauer sprach von einem „Tag von großer Tragweite für die Bundeswehr und ein Versprechen für eine gemeinsame Zukunft“.

Als erster Militärbundesrabbiner der Bundeswehr ist sich Zsolt Balla der Last der Geschichte auf seinen Schultern durchaus bewusst. Tatendrang, Demut und Dankbarkeit seien die Pfeiler für seine neue Tätigkeit, wobei Dankbarkeit im jüdischen Glauben zugleich auch eine Verpflichtung sei, „die sich in Taten manifestieren“ müsse.

Zsolt Balla, 1979 in Budapest geboren und in einer säkularen Familie sozialisiert, wandte sich seinen jüdischen Wurzeln erst nach seiner Hochschulausbildung zu. Nach dem Studium an der Technischen Hochschule in Budapest und mit dem Abschluss als Wirtschaftsingenieur in der Tasche kam er nach Deutschland, um Auslandserfahrung zu sammeln und den Talmud (jüdische Lehrschrift mit Ge- und Verboten) zu studieren. Aus dem ursprünglich dafür vorgesehenen Auslandsjahr sind inzwischen fast 20 geworden, wie sich der Militärbundesrabbiner mit einem Lachen erinnert. Bereits nach dem zweiten Jahr stand für ihn die berufliche Umorientierung vom Wirtschaftsingenieur zum Rabbiner fest. Dem entsprechend nutzte er die Zeit für die Vertiefung der jüdischen Lehre, absolvierte eine Rabbinerausbildung und erhielt 2009 das Diplom. In seiner anschließenden Funktion als Rabbiner in Leipzig stand er zugleich der zentralen Ansprechstelle für Soldatinnen und Soldaten anderer Glaubensrichtungen in der Bundeswehr zur Verfügung. Dieser frühere Dialog mit den Streitkräften dürfte für die Berufung zum Militärbundesrabbiner eine wichtige Rolle gespielt haben.

Dabei könnte die Amtseinführung eine Signalwirkung haben, kommt sie doch zu einer Zeit mit wachsendem Antisemitismus und Extremismus. Auch der Bundeswehr werden rechtsextreme Tendenzen im Inneren vorgeworfen. Zsolt Balla ist überzeugt, dass Ablehnung vor allem durch Unkenntnis und Fremdheit entsteht. Deshalb sei „der interkulturelle und interreligiöse Dialog der Weg, um die Gesellschaft gemeinsam zu verändern und Menschen zu verbinden“, auch wenn Hass und Ausgrenzung niemals vollständig eliminiert werden können. Ähnlich hatte sich auch der Präsident des Zentralrats der Juden Josef Schuster geäußert, denn „Brücken zwischen den Religionen zu bauen“ sei der Weg, den die Jüdische Militärseelsorge beschreiten wolle. Zudem wird innerhalb der Bundeswehr eine Infrastruktur geschaffen, die jüdisches Leben möglich macht. Als Beispiele benennt der Militärbundesrabbiner koschere Verpflegung, religiöse Bildung und Literatur. Neben der Begleitung in die Auslandseinsätze soll im Lebenskundlichen Unterricht jüdische Ethik als Beitrag zu einem gemeinsamen ethischen Fundament der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland vermittelt werden.

Vielversprechend seien die Erwartungen und Resonanz von außen schon jetzt. Die Möglichkeit des Kennenlernens und Austauschs wird gesucht, sodass Zsolt Ballas Terminkalender prall gefüllt ist. Und so war auch der Termin für das persönliche Gespräch mit dem Militärbundesrabbiner, derzeit noch im Planungsamt der Bundeswehr in Berlin-Schöneweide, von mehreren Dienstreisen flankiert.