Konfrontation mit dem Unfassbaren

23. August 2021 News Bereich Nord Bereich Ost Bereich Süd Bereich West

Wie Betroffene die Flutkatastrophe erlebten und damit umgehen

Von M.H.

Das Hochwasser hat in großen Teilen Deutschlands mit mehr als 180 Toten, vielen Verletzten und der Zerstörung von ganzen Landschaften Leid verursacht. Viele wird diese Erfahrung weiterhin, vielleicht ein Leben lang begleiten. Das Erlebnis einer Naturkatastrophe hat ebenso wie Krieg oder schwere Formen von Gewalt das Potenzial zu traumatisieren. In dieser Extremsituation war es allerdings die Natur, die Gewalt ausübte und die Menschen mit einem völligen Kontrollverlust konfrontierte. Bei körperlichen Verletzungen müssen Wunden medizinisch versorgt und beobachtet werden. Sie können über einen längeren Zeitraum schmerzen. Ähnlich verhält es sich auch bei seelischen Verletzungen, die nicht selten zu längerfristigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen.

Dabei erreichen uns die schrecklichen Bilder von Tod und Zerstörung ohnehin in einer Zeit, die von großer Fragilität gekennzeichnet ist, denn die Erfahrung einer Pandemie hat das Leben vieler Menschen bereits auf den Kopf gestellt. Während dieser schwierigen Zeit hat sich die Bedeutung unseres Zuhauses entscheidend gewandelt, denn es war für viele der Rückzugsort und einziger Bereich, an dem wir uns sicher fühlten. Nicht ohne Grund wurde dort eifrig saniert, renoviert, dekoriert. Wie fühlen sich Menschen in den Überflutungsgebieten, denen nun ihr Zuhause als Ort des Rückzugs genommen wurde und wie erlebten sie die Tragödie?

Auch innerhalb des Geschäftsbereichs des BMVg gibt es zahlreiche Flutopfer. Dankenswerterweise und stellvertretend für andere waren einige Betroffene bereit, sich dazu zu äußern.

Michael Hart

Am Unglückstag (Mittwoch, 14. Juli 2021) war er selbst nicht vor Ort. Am Folgetag erwartete ihn in seinem Wohnort Heimerzheim der völlige Ausnahmezustand. Strom- und Netzausfall, ein unter Wasser stehendes Haus, an das er nicht mehr herankam, Wasser überall, Sperrung der einzigen Brücke des Ortes. Glücklicherweise hatte sich sein Sohn gegen drei Uhr nachts durch das Wasser watend bei der Großmutter in Sicherheit bringen können. Bei Licht offenbarte sich das ganze Ausmaß der Zerstörung. Angesichts eines überfluteten Erdgeschosses und Kellers mit den entsprechenden Folgeschäden bewegt sich der Wertverlust seines Hauses im sechsstelligen Bereich.  Es tue „weh“ nach 20 Jahren mit viel Konsumverzicht und Eigenleistung, um das Projekt eines eigenen Hauses zu realisieren, nun „am Punkt Null“ angekommen zu sein. Die Tragweite des Geschehenen könne noch immer nicht ganz erfasst werden. Das fange schon bei liebgewonnenen alltäglichen und „selbstverständlichen“ Gewohnheiten an, weil es das alte Zuhause nicht mehr gibt und der bisherige Lebensrhythmus unterbrochen wurde. Das alles Entscheidende in dieser beispiellosen Situation sei aber, das Leben mit einem funktionierenden Privatleben fortsetzen zu dürfen, eine unbeschreibliche Solidarität zu erfahren und keinen Verlust von Angehörigen beklagen zu müssen. Auch wenn absehbar viel Kraft, Konsumverzicht und Kompromisse notwendig seien, „wird das Leben wieder gut werden.“

Andrea B.

Auch sie weilte in der Flutnacht aufgrund eines dringend wahrzunehmenden Termins nicht vor Ort an ihrem Wohnort Ahrweiler und wurde nachts telefonisch über die dramatische Entwicklung informiert. Das führte zu einer Schockreaktion, denn „in dem schönen alten Haus aus dem Jahr 1892“, dem Elternhaus ihres Partners, in das sie im September einziehen wollten, stand das Wasser mit einer Höhe von 1,90 m. Auch wenn die Wasserfolgeschäden derzeit noch nicht vollständig überschaubar sind, hat das Haus mit seiner soliden Substanz einiges „besser verpackt“ als moderne Bauten. Es verfüge über keinen Estrich, wie ansonsten üblich, der nun mühsam herausgeschlagen werden müsse. Darüber hinaus lasse die Statik des Hauses keine größeren Probleme erkennen und selbst die alte Eichentür habe es geschafft. Auch wenn eine solche Krisensituation dem eigenen Tunnelblick Vorschub leistet, sind es die vielen positiven Beobachtungen, die aufbauen: Die vier Bienenvölker im Garten haben überlebt oder im Schlamm wurde ein verloren geglaubtes Erinnerungsstück gefunden – es ist diese Freude, die durch die Welle trägt. Jenseits dieser Momente gab und gibt es natürlich viele drängende Herausforderungen. Hier sind es die vielen helfenden, Struktur schaffenden Hände mit ihrer schier unglaublichen Energie, die Andrea B. „wie auf einem Hype schwimmen lassen“ und eine geradezu aufputschende Wirkung entfalten: Helfer-Shuttle, Menschenmassen mit Autokennzeichen der gesamten Republik, die nachts im Auto übernachten, um am Folgetag anpacken zu können, Food trucks, die vor Ort regelmäßig und kostenlos mit hochwertigen Mahlzeiten versorgen. Es gibt unzählige solcher Beispiele von Hilfsaktionen. Perspektivisch ist Andrea B. zuversichtlich: „Wir glauben fest an diese Stadt (Ahrweiler), an einen Neustart.“ Sie hofft auf eine nachhaltige Prägung der Gesellschaft durch diese Katastrophe nach vielen Monaten der Corona-Distanz, die nun so viel Menschlichkeit und Solidarität zum Vorschein bringt.

Harald Selent

Der 14. Juli 2021 sollte auch für ihn einen völlig anderen Verlauf nehmen als geplant. Auf dem Weg von seinem Wohnort Euskirchen-Schweinheim nach Bonn, um mit dem Enkel einen Film zu schauen, wurde er gegen 20 Uhr – schon im Kino – von seiner Vermieterin wegen des gefährlich ansteigenden Hochwassers kontaktiert. Der Berichterstattung aus dem Krisengebiet konnte er während der schlaflosen, von vielen Grübeleien und Sorgen gekennzeichneten Nacht die Evakuierungsabsichten der Behörde vor Ort entnehmen. Es erreichten ihn viele Bilder, die ihm einen Eindruck der Verwüstung vermittelten. Die Steinbachtalsperre war übergelaufen und es beschäftigte ihn die Frage, wie es um das Haus, in dem er seit fast 9 Jahren wohnte und in dem er seinen Lebensabend verbringen wollte, bestellt sein würde. Eine Rückkehr an seinen Wohnort war erst am 19. Juli ab 14.30 Uhr nach einer Registrierung möglich und ein Betreten seines Hauses erst gegen 18 Uhr. Was sich ihm dort bot, war ein völlig desolates Bild, „fast alles war unter Wasser, alles musste schnell raus, da war nichts zu retten.“ Dieser immense Kraftakt gelang mit der großen Hilfe von Angehörigen und anderen Helfenden. Die nächste Hiobsbotschaft erreichte ihn am 21. Juli, also genau eine Woche nach dem Unglückstag, als er erfuhr, dass das Haus aufgrund der Schäden nicht bewohnbar und bis zum 1. August 2021 zu räumen sei.

Inzwischen hat Harald Selent eine neue Wohnung bezogen, die er schnell fand. Auch wenn er seine vorherige Bleibe, das alte Fachwerkhaus „sehr liebte“, möchte er nun einen Neuanfang, statt auf unbestimmte Zeit auf das Ende von Sanierungs- und Renovierungsarbeiten warten zu müssen. Auch wenn er der neuen Wohnung einiges abgewinnen kann, überwiegt bei ihm das Gefühl es Verlustes. Trotzdem möchte er sich arrangieren und mit der großen Unterstützung aus dem Familien- und Freundeskreis das Beste aus der Situation machen. Dabei erinnert er an einen Gedanken aus der „Fledermaus“, der in seinem bisherigen Leben und womöglich auch jetzt wieder eine leitmotivische Bedeutung hat. „Glücklich ist, wer vergisst, dass es nicht zu ändern ist.“